Hintergründiges
Demenz: Wie würdevolle Pflege gelingt
May Bjerre Eiby hat mit ihrem Pflegekonzept „Mitgefühl und Umsorgung“ neue Maßstäbe in der Demenzpflege gesetzt. Doch welche Konzepte werden hierzulande in Pflegeheimen realisiert, um Bewohnern mit Demenz ein würdevolles Leben und eine gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen?
M. Rösner | 2. Mai 2022

Von den rund 1,6 Millionen Menschen in Deutschland, die an einer Demenz erkrankt sind, leben 30 Prozent in stationären Einrichtungen, wie die Deutsche Alzheimer Gesellschaft berichtet. Nach einer aktuellen Gesundheitsstudie der Fachzeitschrift „The Lancet Public Health“ ist davon auszugehen, dass bis zum Jahr 2050 die Zahl der von Demenz Betroffenen um 65 Prozent ansteigen wird. Zurückzuführen ist dies vor allem auf das Bevölkerungswachstum und eine steigende Lebenserwartung. Die Krankheit ist bis heute nicht heilbar.
Am häufigsten vertreten ist die Demenzform des Typs Alzheimer. Diese Erkrankung beginnt symptomatisch mit dem Vergessen von Kleinigkeiten und endet mit dem Verlust der eigenen Identität. Ab dem fortgeschrittenen Krankheitsstadium benötigt der Mensch mit Demenz eine Rundumbetreuung. Viele Angehörige können diese häusliche Betreuung nicht mehr leisten und sind auf einen Heimplatz angewiesen.

Ohne eine vertrauensvolle Beziehung geht es nicht
Damit sich die Lebensqualität von Bewohnern mit Demenz in Pflegeheimen verbessert, braucht es mehr als nur eine „Satt-und-Sauber-Pflege“ mit einmal wöchentlich stattfindenden Beschäftigungsangebot, wie z. B. einem Singkreis. Trotz ihres geistigen Verfalls sind sie immer noch Menschen mit Gefühlen und Erinnerungen, die lange körperlich fit und unternehmungslustig bleiben. Das Problematische an dem Krankheitsbild ist, dass die meisten Betroffenen merken, dass ihre Gehirnleistung abnimmt. Oft versuchen sie dieses Defizit vor anderen zu verbergen. Dabei reagieren sie verunsichert, hilflos oder ängstlich.
Um im Pflegeheim-Alltag trotz nachlassendem Gedächtnis zurecht zu kommen, benötigen sie nach wissenschaftlichen Erkenntnissen eine vertrauensvolle Beziehung zu einer Pflegekraft, die den Erkrankten liebevoll unterstützt. Hierzu gibt es seit 2019 den Expertenstandard „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“, den das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) herausgebracht hat. Die Autoren betonen, dass eine vertrauensvolle Beziehung nur gelingen kann, wenn dabei die Persönlichkeit des Erkrankten sowie seine Eigenarten und Vorlieben im Mittelpunkt stehen und nicht die Demenzerkrankung. In dem Standard werden zudem Methoden aufgezeigt, die helfen, Menschen mit Demenz das Gefühl zu geben, mit anderen Menschen verbunden zu sein. Das gelingt z. B. über Tiere, Musik und Tanzen.

Da nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch festgelegt ist, dass Expertenstandards für Pflegeheime in Deutschland verbindlich sind, versuchen immer mehr Heime diesen Standard umzusetzen. Diese Standardeinführung ist erforderlich, um die Vernachlässigung eines Bewohners mit Demenz zu vermeiden. Durch eine Vernachlässigung kann es im schlimmsten Fall beim Erkrankten zu aggressivem Verhalten kommen. Als Folge werden sie mit Psychopharmaka ruhiggestellt, wie der AOK Pflege-Report aus dem Jahr 2017 belegt. Von den Bewohnern mit einer Demenz bekamen 40 Prozent in Pflegeheimen dauerhaft Psychopharmaka. Nicht nur, dass es dadurch zu erheblichen Nebenwirkungen wie Stürze oder Schlaganfälle kommen kann, es verstößt auch gegen geltende Leitlinien.
Gute Betreuung braucht nicht viel Geld, sondern Ideenreichtum
Das eine gute pflegerische Versorgung von Menschen mit Demenz nicht zwangsläufig mit mehr Geld oder mehr Personal einhergeht, haben Altenpflegeheime in den Niederlanden schon bewiesen. Neben innovativen Betreuungskonzepten achten diese Einrichtungen besonders darauf, dass ihr Personal sehr gut im Umgang mit dieser speziellen Bewohnergruppe geschult ist.
Ganz vorn dabei ist das Demenzdorf „De Hogeweyk“ in Weesp. Hier wurde im Jahr 2009 eine kleine eigene Welt für Menschen mit Demenz geschaffen, die eine alltägliche Normalität vermittelt. Aufgebaut ist es wie ein Dorf mit Restaurant, Café, Supermarkt, Friseur, Handwerksschuppen, Theater, eine Parkanlage und einem Dorfplatz. Die Bewohner leben in kleinen Wohngemeinschaften mit bis zu sechs Personen zusammen. Eine individuelle Inneneinrichtung sorgt dafür, dass sie sich wie zu Hause fühlen. Gemeinsame Aktivitäten wie kochen, einkaufen oder Wäsche zusammen legen stehen hier auf der Tagesordnung. Die Pflege- und Betreuungskräfte sind zivil gekleidet und helfen den Bewohnern bei den täglichen Aufgaben, falls sie dabei Hilfe benötigen. Die Bewohner können sich auf dem eingezäunten Gelände des Demenzdorfes frei bewegen. Seit der Gründung konnte die Leitung von „De Hogeweyk“ feststellen, dass sich der Gemütszustand von Bewohnern verbesserte, wenn die Mitarbeiter auf ihre Vorlieben und Abneigungen eingingen. Dadurch konnte die Arzneidosis stark verringert werden. „De Hogeweyk“ war das erste speziell für Menschen mit Demenz konzipierte Dorf. Nach diesem erfolgreichen Konzept entstanden weltweit weitere Demenzdörfer.
Das Pflegeheim „Leo Polak“, ist eines der größten Einrichtungen für Menschen mit Demenz in Amsterdam. Das wichtigste Konzept in der Betreuung lautet hier: Gemütlichkeit ist wichtiger als pflegeleicht. So berichtet das Stern-Magazin, dass alle Räume gemütlich mit Teppichen, altmodischen Sesseln und vielen antiquarischen Gegenständen aus den 1960er und 70er Jahren eingerichtet sind. Sie entstammen aus jener Zeit, in der die Bewohner viel erlebt haben und aus der ihnen daher viele Erinnerungen geblieben sind. Die Bewohner leben in Wohngemeinschaften zusammen. Jeder kann nach seinem eigenen Biorhythmus leben, wie er es sein Leben lang getan hat. Wer will, kann innerhalb der Wohngruppe mithelfen bei der Hausarbeit.

Oder auf den langen Fluren spazieren gehen. Auf diesen ist mit vielen Attrappen und Fototapeten das ehemalige vertraute Leben der Menschen mit Demenz nachgebaut. So stehen Fahrräder im Flur und bepflanzte Blumenkästen hängen an der Wand. Auch eine Bushaltestelle wurde aufgebaut. Die Bewohner können sich hinsetzen und auf den Bus warten, um z. B. ihre Kinder zu besuchen oder ihre Eltern, die eigentlich schon lange verstorben sind. Oft vergessen sie diese Idee jedoch bald wieder. In „Leo Polak“ spielt es keine Rolle, ob die Menschen mit Demenz merken, dass alles nur eine Attrappe ist. Wichtig ist, dass sie sich gut fühlen, wenn sie gerade mit ihren Gedanken in der Vergangenheit sind und dort sich selbst wiederfinden und lachen können.
Leben in der Mitte der Gesellschaft
In Deutschland ermöglichen immer mehr Heime, neben einer guten Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz, auch eine Teilhabe ihrer Bewohner am gesellschaftlichen Leben. Hierfür startete im Jahr 2020 die deutsche Bundesregierung eine Nationale Demenzstrategie mit dem Ziel, „Menschen mit Demenz bis zuletzt ein möglichst eigenständiges und selbstbestimmtes Leben in der Mitte der Gesellschaft zu ermöglichen“. Für die Umsetzung werden regionale Netzwerke und Projekte gefördert, die eine gute Unterstützung und Versorgung der Erkrankten sicherstellen.
Um solche herausragenden Projekte für Menschen mit Demenz auszuzeichnen und bekannt zu machen, verleiht das Land Bayern den Bayrischen Demenz-Preis.
Im Juni 2021 ging der erste Preis an das Seniorenzentrum „Johann Hinrich Wichern“ aus Forchheim mit ihrem „Leasinghühner“- Projekt. Das Projekt zielt darauf, Menschen mit Demenz durch die Betreuung der Hühner eine sinnhafte Aufgabe zu geben. Durch das Leasingangebot können Kontakte zu Menschen ermöglicht werden, die nicht im Seniorenzentrum wohnen.
Gewürdigt wurde auch das Projekt „Die Frankengartler“ des Seniorenzentrums „Martin Luther“ in Streitberg. Im Garten des Seniorenzentrums werden Hochbeete bewirtschaftet. Die Ernte wird zum Kochen verwendet. Im Rahmen dieses Projektes besuchen die Bewohner öffentliche Orte, wie z. B. Gärtnereien und beteiligen sich an Aktionen mit dem örtlichen Obst- und Gartenverein.

Demenzdörfer in Deutschland
Langsam, aber stetig werden auch in Deutschland Demenzdörfer eröffnet. Sie sind ähnlich aufgebaut wie ihr Vorbild „De Hogeweyk“ in den Niederlanden. Die Vorteile dieser Dörfer sind, dass sie neben gut ausgebildetem Pflegepersonal darauf ausgerichtet sind, dass die Bewohner aktiv und selbstbestimmt am sozialen Leben teilnehmen und sie sich innerhalb der Anlage frei bewegen können. Das erste Demenzdorf in Deutschland war „Tönebön am See“ in Hameln. Es öffnete im Jahr 2014. Zwei Jahre später folgte die AWO-Anlage „Süssendell“ bei Aachen.
Das neuste Demenzdorf in Deutschland, das „Ahorn-Karree“ in Hilden, wird im Juli 2022 eröffnet. Hier sollen 80 Menschen mit Demenz in kleinen Wohneinheiten betreut werden. Um von der herkömmlichen „Satt-und-sauber-Pflege“ wegzukommen, hat die Graf-Recke-Stiftung, die das zukünftige Dorf betreibt, extra eine Weiterbildung zur „Präsenzkraft“ für Pflegekräfte entwickelt. Denn Pflege- und Betreuungskräfte, die Bewohner bedienen und ihnen z. B. Brote schmieren, wird es so im „Ahorn-Karree“ nicht geben. „Jetzt sollen sie die Erkrankten nicht mehr rundum versorgen, sondern sie motivieren, selbst aktiv zu werden“, erklärte der zukünftige Einrichtungsleiter Michael Zieger der Frankfurter Rundschau. Die Bewohner sollen zusammen mit den Pflegekräften entscheiden, wie sie ihren Tag gestalten wollen. Es bleibt ihnen überlassen, ob sie sich z. B. am gemeinsamen Kochen beteiligen möchten. Zieger argumentierte: „Wir wollen uns jetzt den Patienten anpassen – bislang haben sie sich dem stationären Betrieb angepasst.“
Im „Ahorn-Karree“ steht schon vor der Eröffnung fest, dass es dort keine festen Essenszeiten geben wird und die Bewohner selbst entscheiden dürfen, wann sie aufstehen wollen. Diese Freiheiten wurden schon auf einer Demenzstation in einem Altenheim des Betreibers getestet.
Ganz selbstbestimmt geht es doch nicht?
Kritische Stimmen bemängeln, dass Menschen mit Demenz oft nicht selbstbestimmt die Demenzdorf-Anlage verlassen können. So befindet sich z. B. um die gesamte Anlage von „Tönebön am See“ ein Zaun. In „Süssendell“ sind die Betreiber des Dorfes schon einen Schritt weiter, wie demo-online berichtete. Es gibt hier keinen Zaun mehr, sondern nur Hecken. Die Bewohner können selbstständig die Anlage verlassen. Aber nur, weil einige Bewohner, die besonders unternehmungslustig sind, einen GPS-Tracker tragen. Wenn sie sich verlaufen, können die Pflegekräfte sie schnell wiederfinden. „Die Selbstbestimmung soll eingehalten werden“, sagte Pflegemanager Stephan Enzweiler gegenüber demo-online: „Die Menschen sollen ja laufen, damit sie nicht die Mobilität verlieren.“
Und so werden in Deutschland stückchenweise mit Blick auf die Ressourcen in der Pflege, neue Pflegekonzepte erarbeitet und Pflegeheime demenzfreundlicher gestaltet, um Menschen mit Demenz einen würdigen Lebensabschluss zu ermöglichen.